Von Sagen und Sagas

Ungenannt haben die alten Isländer großen Einzug in unsere Fantasy-Welt erlangt. Jede zweite Trilogie frönt ihrem Namen, stellt sich in ihre Tradition - und weiß es noch nicht einmal. Ich spreche von einem der größten Missverständnisse in unserer modernen Literatur: der Saga.

Der Saga-Boom der heutigen Zeit

Sucht man nach Fantasy-Büchern, überrollt einen dieser Name immer wieder: Saga. Er klingt nach einer bildgewaltigen Geschichte, nach der Erzählung von Helden und Generationen, Schlachten und Liebe, nach einem Epos der Meisterklasse, nach einer Legende, die in der jeweiligen Fantasywelt ein Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist und die viele Jahrhunderte später immer noch von den Alten am Feuer erzählt wird.

Der Herr der Ringe - das ist eine großartige Saga, oder?

 

Nein. Ist es nicht. Und auch nicht ein einziges der anderen Bücher, das sich hinter ihm in der riesigen Fantasy-Welt eingerichtet hat.

Schreibst du eine Saga? Dann verspreche ich dir, dass auch dein Roman keine ist - dafür muss ich nicht einmal den ersten Satz lesen.

 

Eigentlich ist es eine große Schande, dass selbst renommierte Verlage wie Piper, dtv, Heyne, blanvalet und viele mehr, diesem Fehler anheim gefallen sind. Sei es die Licht-Saga von Brent Weeks (blanvalet), sei es die Geralt-Saga von Andrzej Sapkowski (dtv), sei es Phileasson-Saga von Bernhard Hennen (Heyne) oder sei es die Schwertfeuer-Saga von Robert Corvus (Piper), von all den Selfpublishern ganz zu schweigen: Die Liste ist unendlich.

 

Tolkien wusste sicherlich um die Falschheit dieses Namens, deswegen hat er ihn gar nicht erst verwendet, obwohl "Die Ring-Saga" doch ziemlich gut geklungen hätte. Aber Tolkien war ein Experte im Bereich der nordischen Mythologie.

Was ist eine Saga?

Dabei sind die Fakten ganz leicht: Eine Saga ist eine Textgattung aus dem isländischen Mittelalter. Es gibt unterschiedliche Untergattungen, etwa die Isländersagas (Íslendinga sögur), die Rittersagas (Riddarasögur), die Bischofssagas (Biskupa sögur) oder die Königssagas (Konunga sögur). Sie sind Texte eines bestimmten Themas zu einer bestimmten geschichtlichen Epoche, die inzwischen längst abgeschlossen ist. Selbst eine moderne isländische Erzählung ist per definitionem keine Saga - geschweige denn all die Fantasy-Epen, die weder von Island noch von Isländern (oder wahlweise Norwegern) erzählen.

 

Selbst im Duden findet sich zu Saga nur eine einzige Erklärung: Alte nordische, meist von den Kämpfen heldenhafter Bauerngeschlechter handelnde Erzählung in Prosa.

Der leichtfertige Umgang mit diesem äußerst spezifischen Begriff geht vermutlich auf eine Verwechslung mit dem deutschen Wort "Sage" einher (Plural von Sage = Sagen, von Saga = Sagas). Beide haben zwar dieselbe Wurzel, doch im Gegensatz zur Sage ist eine Saga kein "ursprünglich mündlich überlieferter Bericht über eine im Einzelnen nicht verbürgte, nicht alltägliche, oft wunderbare Begebenheit" (Duden), worauf die Titel der Fantasy-Romane anspielen. Die Saga ist vielmehr ein literarischer Text, den ein Autor verfasst hat, ein Genre, das heute ebenso ausgestorben ist wie der Minnesang.

 

Daraus ergibt sich, dass die Betitelung moderner Romanreihen mit dem historischen Kunstbegriff ebenso falsch ist wie die Klassifizierung eines modernen Spitzbogen als gotisch. Ganz und gar gleichgültig, was der Inhalt des jeweiligen Romanes ist, da sich der Begriff Saga nur auf einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit anwenden lässt, sind moderne Bücher niemals eine Saga.

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